Camille Graeser

Relation, 1966

Camille Graeser wurde 1892 in der Schweiz geboren, lebte aber ab seinem sechsten Lebensjahr zunächst in Stuttgart. Er machte eine Schreinerlehre, um seiner früh verwitweten Mutter bei der Versorgung seiner Geschwister helfen zu können. 1911 trat er in die Klasse für Möbelbau und Innenarchitektur an der Königlichen Kunstgewerbeschule ein, in deren Meisterklasse er anschließend aufgenommen wurde. Nebenbei nahm er außerdem Unterricht im Zeichnen und Malen. In dieser Zeit fand er Anschluß an die Stuttgarter Avantgarde. In Berlin kam er nach Abschluss seines Studiums in Herwarth Waldes Sturm Galerie erstmals mit der Kunst von Chagall, Kandinsky, Klee und Archipenko in Kontakt und vollzog seine ersten eigenen Schritte in Richtung Abstraktion.

Während der folgenden Zeit als Innenarchitekt, Produktgestalter und Werbegraphiker in Stuttgart mußte er häufig Kompromisse eingehen, da es nicht genügend Interessenten für seine moderne funktionelle Formgebung gab. Zunächst war er nur bei Fachwettbewerben mit seinen Entwürfen erfolgreich. Seine erste Einzelausstellung 1918 in Stuttgart und der Auftrag, 1927 eine Musterwohnung in der revolutionären Weissenhofsiedlung des Deutschen Werkbundes bei Stuttgart einzurichten, führten dazu, daß sein Erfolg als Designer stetig weiter wuchs. Seine Webteppiche für die Wohnung sind seine ersten streng geometrisch-konstruktiven Werke.

Erst mit 45 Jahren widmete sich Graeser ganz der Malerei. Zu diesem Zeitpunkt schuf er sein erstes konkretes Bild. Den Begriff „konkret„ definierte Camille Graeser folgendermaßen:

„Konkret heisst Verzicht auf Darstellung einer optischen Gegenstandswelt in der Kunst.

Konkret heisst eine neue, klare Bildwelt gestalten.

Konkret heisst bauen, konstruieren und entwickeln von Rhytmen auf geometrischer Grundlage.

Konkret ist streng logisches Schaffen und Gestalten von Kunstwerken, die Eigengesetzlichkeit haben.

Konkret ist das Spiel mit Mass und Wert von Farbe, Form und Linie.

Konkret heisst Ausschaltung alles Unbewussten.

Konkret ist der sichtbar gestaltete malerische Klang, ähnlich der Musik.

Konkret heisst Reinheit, Gesetz und Ordnung.„

Graeser wurde von den Anfängen bis zu Beginn der 60er Jahre in seinen Kompositionen immer reduzierter und auch konzentrierter. Der Titel des Werks „Relation„ aus dem Jahre 1966 gibt sein Hauptanliegen wieder: Camille Graeser wollte in seinen reduzierten Kompositionen Relationen darstellen, Beziehungen von Farben und Farbmengen und einfachen Größenverhältnissen. Die Grundform dieser Bilder ist das Quadrat. Zwei Quadrate nebeneinander ergeben die Breite des Bildes und ihre Höhe entspricht einem Viertel der gesamten Bildhöhe. Das rote und das grüne Quadrat stehen sich als ein komplementäres Farbpaar gegenüber. Da der Komplementärkontrast nicht exakt getroffen ist, flimmert die Berührungskante der beiden Quadrate optisch. Durch diesen Effekt bekommt die einzige vertikale Linie im Bild ein solches Gewicht, daß sie einen ausgleichenden Gegenpol zu den Horizontalen in der Komposition bildet.

Oberhalb der beiden Quadrate befinden sich zwei flächenmäßig gleichgroße Streifen in Gelb und Blau. Graeser stellt hier also die Farben mit dem größten Hell-Dunkelkontrast gegenüber, sowie die Komplementärfarben Rot und Grün mit dem geringsten Hell-Dunkelkontrast und legt unmittelbar unter die beiden Quadrate einen neutralgrauen Balken, der genau doppelt so groß ist wie ein Quadrat.

Wenn man von der Grundfläche eines Quadrates ausgeht, entspricht die rhythmische Komposition des Bildes von oben nach unten dem Zahlenverhältnis pro Streifen 1+1=1+1=2=½+½+½+½.

Das bedeutet, daß in der oberen Bildfläche alle Flächen gleich groß sind, während sie in der unteren Bildhälfte einmal doppelt und viermal halb so groß sind. Somit entspricht die Menge an Gelb und Blau im oberen Bildviertel der Menge im unteren Bildviertel. Diese beiden Streifen rahmen das mittlere Quadrat, das sich aus dem grauen Balken und dem roten und grünen Quadrat zusammensetzt. Der mittlere Bildteil hebt sich durch seine sehr homogene Farbigkeit von den kontrastreichen gelben und blauen Streifen ab. Dieses Werk zeigt, wie es Graeser gelingt, mit sehr reduzierten Mitteln eine sehr komplexe Bildkomposition zu entwerfen.